Nicht weniger als die Zukunft des Kinos werde verhandelt,
wenn es um die Auseinandersetzung der großen Filmfestivals – und hier
insbesondere des Cannes Film Festivals – und Streamingriesen wie Netflix geht.
So sieht es zumindest die Financial Times. Weshalb insbesondere das traditionsreiche
Festival an der französischen Riviera wie ein bockiges Kind an einer
No-Netflix-Politik für seinen Wettbewerb festhält. Die ja auch umgekehrt (von
seltenen Ausnahmen abgesehen) zutreffende No-Cinema-Politik des Streamingriesen
wird hier gerne als Hauptgrund angeführt, ein Einwand, den jeder verstehen
kann, der Alfonso Cuarons „Roma“ lediglich auf dem heimischen Bildschirm zu
Gesicht bekommen hat. Dass solche Maßnahmen trotzdem reine Augenwischerei sind,
davon zeugt die Tatsache, dass insbesondere Netflix und Amazon als große Player
längst nicht mehr von den internationalen Filmmärkten wegzudenken sind. Und die
sind am Ende des Tages deren raison d’être, das finanzielle Grundrauschen, ohne
welches das glamouröse Drumherum gar nicht denkbar wäre.
Man kann es also doof finden, dass man in Frankreich nicht
in der Lage ist, eine Ausnahmeregelung für die Kinoauswertung von Netflix-Produktionen
zu finden, die – einmal im Kino gelaufen – erst nach drei Jahren (!!) vom
Streamingdienst zumindest in Frankreich ins Programm genommen werden dürfen.
Oder man kann auf Netflix schimpfen, weil hier der Film als Handelsware
möglichst schnell in den globalen Kreislauf gebracht werden soll. Aber dann
vermischt man die Frage danach, wo Kunst stattfinden kann und muss mit jener
nach der potenziellen Reichweite großer Filmkunst. Und es ist wohl
unbestreitbar, dass eine globale Auswertung auch noch so kleiner und
kunstvoller Produktionen über ein weltweites Streamingnetzwerk potenziell und
faktisch ein Vielfaches des Publikums erreichen dürfte, das sich sonst – wenn
überhaupt – in die kleinen Programmkinos traut.
Und überhaupt: Wie will ein Filmfestival von Cannes denn
vorgehen, wenn seine großen Weltpremieren und Preisgewinner während des
Festivalbetriebs dann doch von Netflix (oder eben Amazon) gekauft und zur
weltweiten Auswertung vorbereitet werden? Wie aktuell eben „Atlantiques“, der
zu Recht den Grand Prix gewonnen hat oder die animierte „Semaine de la
Critique“-Sensation „I Lost My Body“, die mit Ausnahme weniger Märkte (u. a.
Frankreich) nun auf Netflix zu sehen sein werden. Die Preise rückwirkend wieder
aberkennen? Netflix und Amazon künftig auch den Zugang zu den Filmmärkten
verwehren und so die gesamte Finanzierungsgrundlage der Festivals in Frage
stellen? Weiterhin dabei zusehen, wie sich die Festival-Konkurrenz die
Sensationen sichert, deren Finanzierung derzeit anscheinend nur die großen
Streamingdienste gewährleisten können? Zukunftsfähige Planung sieht anders aus.
Zumal man sich – mit Ausnahme derer, die in Sachen
Filmfinanzierung ohnehin Narrenfreiheit genießen – gegen einen Großteil der
Filmschaffenden selbst stellen dürfte, die unter dem Banner von Netflix, Amazon
und künftig auch Apple eine künstlerische Freiheit (und meist auch ein Budget)
genießen, die große und kleine Studios in dieser Form nie zu gewähren bereit
sind. Und das gilt nur für die selbst produzierten Originals. Hinzu kommen ja
noch die Millionenbeträge, mit denen man in Bausch und Bogen die für oft
kleines Geld entstandenen Buzztitel aufkauft und in den eigenen
Verwertungskreislauf einspeist. Gerade für die Produzenten von Independent- und
Genrefilmen ein Segen, der es sehr viel wahrscheinlicher erscheinen lässt, dass
sich die eingegangenen Risiken möglicherweise (über einen kleinen
Festival-Circuit hinaus) bezahlt machen.
Wobei ein Kern-Problem nicht verschwiegen werden soll: Das
der mangelnden (bzw. oft komplett ausbleibenden) Kommunikation nach außen.
Während der Launch eines neuen seriellen Exklusivtitels oft mit weltweit
koordinierten Kampagnen weiter gepusht wird, landen die eingangs erwähnten
Film- und Festivalperlen oft unter Ausschluss der Öffentlichkeit auf dem
algorhithmischen Abstellgleis. Weltweit gesehen garantiert das zwar immer noch
für ein Vielfaches dessen, was an Publikum ins Kino geströmt wäre, aber
gemessen an den verpassten Möglichkeiten für manche dieser Filmhighlights ist
das einfach zu wenig. Insofern darf man sich nicht weiter wundern, wenn man –
in Abgrenzung des Kinos – immer noch zum TV-Riesen kleingeredet wird, der mit
Leinwand nix am Hut und deswegen mit Filmkunst nichts zu tun hat. Sobald man
bei den Streamingdiensten erkannt hat, dass man mit dem filmischen Pfund, das
man erworben hat, ebenso hausieren gehen kann, wie mit der neuen Staffel des
nächsten Serienhits, dürfte auch der vermeintliche Krieg ums Kino kein Krieg
mehr sein. Genauso wenig, wie die Digitalisierung der Musik zu ihrem Tod
geführt hat (allenfalls zu größerer Unübersichtlichkeit), wird die
Digitalisierung großer Filmkunst deren Ende einläuten. Ein Meisterwerk ist ein
Meisterwerk ist ein Meisterwerk – auch wenn die Leinwand der Zukunft
möglicherweise immer öfter Zuhause steht.
DER JUNGE, DER DEN WIND EINFING
(The Boy Who Harnessed The Wind)
Nur wenige Tage nach der Weltpremiere in Sundance bzw. der
Europapremiere auf der Berlinale fand dieses britische Drama von Chiwetel
Ejiofor seinen Weg zu Netflix. Basierend auf einer wahren Geschichte erzählt
der Film von einem jungen Afrikaner, der einer drohenden Dürre mit dem Bau
einer Windmühle zur Bewässerung begegnet.
ICARUS
Russisches Staatsdoping im Radsport steht im Mittelpunkt
dieser fast wie ein Thriller funktionierenden Dokumentation, die nach ihrem
Erscheinen 2017 den Oscar als bester Dokumentarfilm 2018 gewinnen konnte.
DIVINES
2016 gab es in Cannes die Camera D’Or, ein Jahr später
etliche Césars für dieses packende Crime- und Sozialdrama um die Schicksale
zweier Teenager in den Pariser Banlieus. Zusammen mi „La Haine“ und jüngst „Les
Miserables“ einer der Meilensteine zum Thema.
FREMD IN DER WELT
(I Don’t Feel At Home In This World Anymore)
Melanie Linskey und Elijah Wood glänzen in diesem
Sundance-Buzztitel der Saison 2017 und machen als eine Art skurrile
Nachbarschaftswehr Jagd auf gefährliche Gewalttäter. Eine Perle des Indiekinos,
die – zumal unter ihrem deutschen Titel – wohl niemand auf Netflix findet, der
nicht aktiv danach sucht.
PRIVATE LIFE
Nur ein halbes Jahr nach seiner Premiere in Sundance landete
diese von der Kritik gefeierte Tragikomödie um ein Paar mit erfolglosem
Kinderwunsch auf Netflix. Inszeniert von Tamara Jenkins, wurden sowohl Paul
Giamatti als auf Kathryn Hahn immer wieder auch für die Oscars in Gespräch
gebracht.
LAND DER GEWOHNHEIT
(The Land Of Shady Habits)
Tonal dem „Private Life“ nicht unähnlich, folgt der Film von
Nicole Holofcener Ben Mendelssohn durch die Höhen und Tiefen einer Midlife-Crisis,
in deren Kontext er auch das Verhältnis zu seinem entfremdeten Sohn noch einmal
neu bewerten muss. Premiere 2018 in Toronto, auf Netflix wenige Wochen später.
THE WORLD IS YOURS
(Le monde est a toi)
Vincent Cassell und Isabelle Adjani spielen die Hauptrollen
im kriminellen Crowdpleaser von Romain Gavras, die Musik stammt von
Elektronik-Whiz SebastiAn und Jamie XX. Die durchgeknallte Thriller-Groteske
lief 2018 in der Director’s Fortnight von Cannes und landete trotz begeisterter
Reaktionen ohne Umwege (oder Bewerbung) auf Netflix.